Wie dieses Buch entstand
Außer Philosophie und Geschichte habe ich auch Jura studiert, doch das hat keinen Fachjuristen aus mir gemacht. Mein Interesse galt der Kulturgeschichte des Rechts. Das führte mich an der Münchner Universität 1966 zu Sten Gagnér. Der schwedische Professor auf dem Lehrstuhl für nordische und vergleichende Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht, bekannt als intimer Kenner des Mittelalters und Autor wichtiger Methodenstudien, war ein universal gebildeter, an allem interessierter Gelehrter. Er wollte mit seinem Vornamen und Du angesprochen werden und behandelte seine Studenten und Studentinnen mit väterlicher Fürsorge; ein sanfter, empathischer Mensch, der nur streng wurde, wenn es sich einer seiner Schützlinge zu leicht machte oder auf einen Irrweg geraten war.
Sten hatte einen Kreis von Studenten und Doktoranden beiderlei Geschlechts um sich gesammelt, die mit bewundernder Liebe an dem warmherzigen und allwissenden Lehrer hingen. Zu den Seminarsitzungen traf man sich im Dachgeschoss des juristischen Fakultätsgebäudes, einem Raum mit dem Geruch alter Bücher. Die selten mehr als 15 Teilnehmer, Sten am Kopfende, saßen um einen langen Tisch, durchwegs kluge Köpfe mit speziellen Interessen, vielseitig belesen und gebildet, zukünftige Sterne der Wissenschaft.
Es ging nicht immer nur um Juristisches. Auch um Literatur, Altertumskunde, Philosophie, Politik, Soziologie und Wirtschaftsgeschichte – all das kam zur Sprache. Sten, mit Ockham nicht weniger vertraut als mit Locke und Wittgenstein, fragte zuweilen nach der Bedeutung gewisser Begriffe, die wir ins Gespräch warfen. Wichtig war ihm, dass wir Wörter und Fakten im jeweiligen „Kontext“ sahen, in denen sie verwendet werden. Er gewöhnte uns ab, modische Schlagworte wie „Paradigmenwechsel“ zu gebrauchen. Ohne akademische Floskeln, klar und direkt sollten wir uns ausdrücken, und auf den Zusammenhang von Ideen und Handlungen mit der jeweiligen historischen Situation achten. Von unseren Referaten erwartete er, dass sie auf kritisch untersuchten Originalquellen beruhten.
Druck übte er nicht aus; wenn notwendig, brachten uns seine Nachfragen auf die richtige Bahn. Er vergab im voraus Lob, traute uns mehr zu als wir uns selbst zutrauten, und da wir ihn keinesfalls enttäuschen wollten, mussten wir besser sein, als wir waren.
Ende der 70er Jahre promovierte ich bei Sten mit einer Arbeit über einen Landfahrer-Prozess aus dem späten 16. Jahrhundert. Die Universität hatte ich längst verlassen, um mir eine Existenz als freiberuflicher Schriftsteller aufzubauen, doch dem Mansardenseminar blieb ich treu. Schon aus Freude am geistigen Austausch und der intellektuellen Anregung, die ich jedes Mal erhielt.
Seit der Studentenzeit interessierte ich mich für den ostfriesischen Rechtsgelehrten Rudolf Jhering, von dem es hieß, er habe ein „Damaskus“ erlebt, das seine Ansicht über die Natur des Rechts veränderte. Ich las den blendend geschriebenen ersten Band seines Werks über den „Geist des römischen Rechts“ und war begeistert. Das war weniger ein Buch über das römische Recht als ein faszinierendes Stück Kulturgeschichte. Sten ermutigte mich, im Seminar über Jhering zu sprechen. Er sei „gespannt“, was ich über diesen großen Juristen des 19. Jahrhunderts herausfinden würde.
Es sollte nur ein Seminarvortrag werden, doch ich wollte Sten nicht enttäuschen. Ich las also mehr von Jhering, studierte die wichtigste Literatur über ihn und machte mich auf die Suche nach Originalquellen. Es gibt einen Nachlass von Jhering, den die Göttinger Universitätsbibliothek verwahrt. Als ich mich dort anmeldete, teilte man mir mit, der Bestand könne nicht eingesehen werden, er sei noch nicht katalogisiert.
Weil ich anbot, meine Durchsicht des Nachlasses mit einer ersten Beschreibung des Inhalts zu verbinden, erhielt ich Zugang. Im Göttinger Archiv stellte man mir mehrere Kartons auf den Tisch. Darin fand ich außer Manuskripten zum „Geist“ eine Vielzahl anderer Aufzeichnungen Jherings; weit über tausend Dokumente in Mappen und Schachteln, alle noch so, wie neunzig Jahre davor aus dem Arbeitszimmer des Verstorbenen geholt. Ich erschrak über die übernommene Aufgabe, doch Stens Vertrauen in mich ließ mir keine Wahl, und so machte ich mich an die Entzifferung. Die Mühe lohnte sich. In jenem April 1981 kam mir Jhering nahe.
Wer je historische Manuskripte und Briefe im Original gelesen hat, weiß, was ich meine. Handschriften beginnen zu reden. Man glaubt, dem Verfasser gegenüberzustehen. Manchmal bringt ein Blatt Papier den Moment zurück, da die Feder darüber kratzte. Jhering hatte die Gewohnheit, in jeder Situation Ideen festzuhalten, und wenn er kein Notizbuch dabeihatte, notierte er den Einfall auf irgendeinem Stück Papier, das gerade greifbar war: einem Reklamezettel, einer Visitenkarte, einem Zugbillett oder einer Serviette. Zuhause nahm er die Notiz aus der Rocktasche und schob sie in eine der Mappen, die in den Regalfächern über seinem Schreibtisch lagen.
Nachdem ich das Referat gehalten hatte, fing meine Beschäftigung mit Jhering erst richtig an. Ich wollte noch viel mehr wissen über ihn. Nicht nur das, was die wissenschaftliche Literatur an Erkenntnissen bot. Da wurde seine Dogmatik analysiert und seine Methode untersucht, erörtert, was ihn beeinflusst, nachgewiesen, was er bewirkt hatte. Die diversen Monografien, Dissertationen, Tagungsberichte, Habilitationen, Briefeditionen und Werkanalysen füllten eine Regalwand. Manche dieser akademischen Arbeiten enthielten einleitend eine Beschreibung von Jherings Werdegang. Doch eine Biografie gab es nicht.
Was faszinierte mich so an Jhering? Zunächst seine Überzeugung, dass das Recht ein Phänomen der Kultur ist, dessen Entstehung unser Interesse verdient. Heute versteht man unter Recht die Summe aller Rechtsnormen, die in einem Gebiet zu einer bestimmten Zeit gelten und deren Durchsetzung von der staatlichen Autorität garantiert wird. Das war nicht immer so.
Zu Jherings Zeit trennte man den Begriff des Rechts von dem des Gesetzes. Gesetze wurden von der Obrigkeit „gesetzt“, das Recht bedurfte keiner schriftlichen Fixierung, es stand über den Gesetzen. Es existierte unsichtbar, nicht weniger „positiv“ als ein Gesetzbuch. Gott hatte es geschaffen, um dem Menschen das Bewusstsein von Wahr und Falsch, Gut und Böse, Recht und Unrecht mitzugeben. Es bildete die Grundlage der Stimme des Gewissens und lenkte das Rechtsgefühl der Juristen auf die richtige Entscheidung, wenn die Gesetze keine befriedigende Antwort auf eine Rechtsfrage gaben. Gesetze machten die Menschen, das unsichtbare Recht war eine „göttliche Ordnung“.
In der Mitte von Jherings Leben und seinem Jahrhundert ereignete sich ein radikaler Bruch im Denken. Diesen Bruch brachte Friedrich Nietzsche mit dem Satz „Gott ist tot“ auf den Punkt. Nunmehr war es unwissenschaftlich, Gott zur letzten Ursache von etwas zu erklären. Da an der Existenz des unsichtbaren Rechts niemand zweifelte, musste die Jurisprudenz eine natürliche Erklärung für das übergesetzliche Recht finden. Jhering gehörte zu den ersten, die das erkannten, und er war zur Lösung dieser Aufgabe prädestiniert.
Anders als die meisten seiner Kollegen hatte er immer schon „das Leben“ im Blick, wenn es um das Recht ging. Etwa bei der Beschreibung vom Geist des römischen Rechts, wo ihm nach dem Vorbild von Montesquieus De l‘esprit des lois vor allem der kulturelle Kontext interessierte. Auch glaubte er nicht an ein angeborenes Gewissen. Was die innere Stimme über Recht und Unrecht wusste, hielt er für anerzogen. Auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Erklärung verließ er das Terrain der Jurisprudenz und wurde zum Kulturhistoriker und einem der ersten Soziologen.
Dazu befähigte ihn ein außergewöhnlicher Charakter. Er war ein kreativer Kopf, selbstbewusst, diszipliniert, vielseitig interessiert und künstlerisch begabt; in dem Rechtsprofessor steckten auch ein Schriftsteller, Musiker, Philosoph, Historiker, Tatmensch, Familienvater und Bonvivant. Von seiner Geburt 1818 bis zu seinem Tod im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts erlebte er die Verwandlung des politisch zersplitterten Deutschlands in ein Kaiserreich. Neben meinem Interesse für Jherings Ideen lockte die Aussicht, mich von ihm durch das aufregende 19. Jahrhundert führen zu lassen.
Als Student studierte Jhering bei Kerzenlicht und reiste mit der Postkutsche; im Alter gehörten Elektrizität, Telegrafie und Eisenbahn zu seinem Alltag. Vor seinen Augen verwandelte sich das agrarwirtschaftliche Deutschland, Dampfmaschinen ersetzten Körperkraft, Industrieproduktion trat an die Stelle von Handarbeit, Technik und Medizin wirkten Wunder. Seine Zeitgenossen gaben ihre Neigung zu Mystik und Romantik auf und fanden Geschmack am „Realismus“. Er traf im Laufe seines Lebens interessante Menschen und war Zeuge von historischen Ereignissen. Ihn auf seinem Weg zu begleiten, würde mich Geschichte an der Seite eines Beteiligten miterleben lassen.
Und was für eine Geschichte! Nicht nur Jhering wandte den Blick vom Himmel auf die Erde. Zu seiner Generation gehörten viele, die Neues wagten: Gottfried Kinkel und Friedrich Hecker, Gustav Freytag und Gottfried Keller, Franz Liszt und Richard Wagner, Friedrich Engels und Karl Marx. Dichtungen wurden lebensnah, Bühnendramen realistisch, Forderungen aggressiv. Komponisten verstießen gegen klassische Harmonik, Maler hörten auf, ihre Objekte zu idealisieren. Autoritäten wurden angreifbar, die Angst verlor ihre Macht.
Mir war klar, dass ich mir viel vorgenommen hatte. Doch meine Selbstzweifel ließ Sten nicht zu. „Du kannst das,“ sagte er. „Es ist kein Zufall, sondern ein Auftrag, sich zu einer solchen Aufgabe aufgerufen zu fühlen.“
Also machte ich mich an die Arbeit. Im Verlauf mehrerer Jahrzehnte studierte ich Briefe, Manuskripte und Notizbücher in Archiven aus halb Europa. Ich kam sehr langsam voran. Nicht nur, weil das Entziffern der vielen tausend Dokumente unendlich viel Zeit kostete, auch weil mein Beruf mich oft monatelang von den Forschungen abhielt. Als ich endlich mit der Niederschrift beginnen konnte, lebte Sten nicht mehr. Doch er ist mir beim Schreiben immer gegenwärtig gewesen. Ohne ihn wäre dieses Buch nicht entstanden. Ich widme es ihm, und wünsche mir Leser, die wie er kritisch Fehler und Schwächen entdecken, doch großzügig bereit sind, im Ganzen die Wahrheit zu erkennen.
Michael Kunze